Pjotr Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ist wohl die meistgespielte russische Oper. Der Erfolg war freilich anfangs nicht sicher. Nun erscheint dieses Bühnenwerk bei Bärenreiter in einer Edition auf dem neuesten Stand der Forschung und unter Berücksichtigung der zum Teil komplizierten Entstehungsgeschichte.

„Diese Oper ist unter ganz besonderen Umständen entstanden. Ich will mich nicht um eine Aufführung auf einer großen Bühne bemühen; es steht ihr überhaupt keine große Theaterzukunft bevor, darum will ich gar kein Honorar von Dir haben.“ So schrieb Pjotr Tschaikowsky kurz vor dem Abschluss der Komposition am 12./24. Januar 1878 an seinen Verleger Peter Jürgenson.

Für das Libretto verwendete Tschaikowsky in großem Stil originale Textfragmente aus Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“. Während zentrale Teile wie die Briefszene nahezu unverändert als ein Stück Literaturoper übernommen werden konnten, hat der Komponist und Librettist sich an anderen Stellen frei bei Puschkin bedient, indem er Textfragmente aus verschiedenen Zusammenhängen herausgriff und die auktoriale Rede des Dichters in Repliken der Opernfiguren umwandelte. Manche Texte wie die Liebesarie des Fürsten Gremin hat Tschaikowsky schließlich selbst hinzugedichtet, ein ästhetisch unbefriedigender Umstand, der ihm selbstverständlich bewusst war, den er aber nicht hat vermeiden können.

Trotz solcher Zusätze fehlten dem Werk die typischen szenischen Effekte und das übliche historische Kolorit: Es richtet den Blick auf das Innenleben der Figuren, was ein hohes, im damaligen Opernbetrieb unbekanntes Einfühlungsvermögen der Darsteller notwendig machte. Für die einzigen damaligen russischen Opernbühnen, das Petersburger Marientheater und das Moskauer Bolschoi Theater, erschien eine solche Oper gänzlich ungeeignet. Die Uraufführung wurde Studierenden des Petersburger Konservatoriums anvertraut. Die Premiere auf der Bühne des Moskauer Maly-Theater unter der Leitung Nikolai Rubinsteins und betreut von einem Theaterregisseur, der mit den jungen Interpreten eine ungewohnt lebensnahe Inszenierung erarbeitete, stieß in russischen Musikerkreisen gleichwohl auf große Beachtung.

„Позор! Тоска! О жалкий жребий мой!“ (In Schmach und Schmerz zerbricht mein Lebensglück!) – diese letzten Worte, die Onegin Tatjanas Ehemann gegenüber in der Schluss-Szene der Oper formuliert, waren Tschaikowsky überaus wichtig, er trug die Korrektur nicht nur in seine eigenhändige Abschrift des Librettos ein, sondern auch in sein Partiturautograph, nicht jedoch in die Partitur, die der Verleger Peter Jürgenson ohne Wissen des Komponisten ebenfalls schon bald herausgebracht hatte. Hier findet man irritierenderweise noch die ursprüngliche Fassung aus Tschaikowskys Autograph – „Weh mir, verfallen bin ich nun dem Tod!“–, die der Komponist von Anfang an als Notlösung empfunden hatte.

Auf Anraten seines Bruders Anatoli machte sich Tschaikowsky 1880 dann nochmals Gedanken über den Schluss der Oper. In seiner von Puschkins Roman stark abweichenden Fassung beantwortet Tatjana Onegins leidenschaftliche Liebeserklärung mit dem Satz „Ich liebe Sie“. Die folgende Regieanweisung lautet: „Tatjana sinkt erregt von ihrem Bekenntnis an Onegins Brust. Er umfasst sie. Dann kommt sie zur Besinnung und befreit sich rasch aus seiner Umarmung.“ Tschaikowsky wollte diese Stelle durch die Anweisung „Onegin kommt näher heran.“ ersetzen. Dieses Vorhaben setzte er nicht um. Geändert hat er jedoch die letzten Repliken der beiden Helden: „ganz am Ende habe ich Tatjanas Worte verändert, und zwar wird sie jetzt nicht mehr beigeben und schwach werden, sondern sie wird fortfahren, auf ihrer Pflicht zu beharren; Onegin wird nicht nach ihr greifen, sondern sie nur mit Worten anflehen, dann sagt Tatjana statt ,ich sterbe!‘: ,Leb wohl auf ewig!‘ und verschwindet, worauf er nach einigen Minuten der Versteinerung seine Schlussworte sagt. Der General soll nicht auftreten.“

Besonders wichtig ist die letzte Bemerkung: Tatjanas Ehemann, der „General“ Gremin überrascht in der Erstfassung der Oper in den letzten Takten das Liebespaar. Diese visuelle Zuspitzung des Dreieckskonflikts wurde vom Komponisten bereits für die erste offizielle Aufführung des Werks, die 1881 am Moskauer Bolschoi Theater stattfand, aufgegeben. Damit sind diejenigen Änderungen in der Schlussgestaltung formuliert, die der Komponist in der zweiten revidierten Druckausgabe der Partitur (Moskau 1891) kodifizierte.

Die Reformen an den Kaiserlichen Theatern in Petersburg, die seit dem Regierungsantritt des Zaren Alexander III. durchgeführt wurden, schufen für Tschaikowsky neuartige Aufführungsbedingungen. Die russische Operntruppe stand im Fokus der Reformen: Sie wechselte an das prestigeträchtige Bolschoi Theater in Petersburg, aus dem die italienische Operntruppe sich zurückziehen musste. Die Adelskreise der Hauptstadt begannen nun, russische Opernvorstellungen zu besuchen. Der Zar persönlich wünschte Tschaikowskys „Eugen Onegin“ auch in Petersburg zu sehen. Entsprechend stark bemühte man sich, den Geist des Werks in einer historisch einfühlsamen Inszenierung zu treffen. Am Petersburger Bolschoi-Theater wurde „Eugen Onegin“ zu einer Oper, die in emblematischer Weise Bilder aus dem Leben der russischen Aristokratie auf die Bühne brachte. Mit 22 Aufführungen erzielte das Werk in der Saison 1884/85 einen Erfolg, wie es ihn in der damaligen Zeit in der russischen Oper noch nie gegeben hatte.

Der Wunsch, der Oper noch etwas mehr Glanz zu verleihen, hatte zur Folge, dass im August 1885 der Petersburger Ball im 1. Bild des 3. Aktes nicht nur mit neuen Kostümen und Dekorationen, sondern auch durch weitere Tanznummern aufgewertet wurde, in denen das Kaiserliche Ballett sein Können zeigen sollte. Unverzüglich komponierte Tschaikowsky die gewünschte Musik. Und die erste Aufführung mit der neuen Ecossaise, die verteilt auf die Nummern 20 und 21 die Begegnung zwischen Onegin und Gremin umklammert, erfolgte bereits am 19. September/1. Oktober 1885. Damit hatte die Oper ihre endgültige Gestalt erreicht. Es wurde nun erforderlich, die Änderungen auch in der gedruckten Ausgabe festzuhalten. Doch nicht nur die neuen Tanzteile und die veränderte Fassung der Schlussrepliken wurden in die 1891 erschienene zweite Ausgabe der Partitur aufgenommen. Da die 1880 erschienene Partitur ohne das Zutun des Komponisten entstanden und voller Fehler war, sollte diese nochmals grundlegend revidiert werden.

Nachdem im Februar 1886 die Kaiserliche italienische Operntruppe aufgelöst worden war, kehrte die russische Truppe wieder aus dem Bolschoi-Theater in das Mariinski-Theater zurück, wo sie bis auf den heutigen Tag verblieben ist. Auch dort stand „Eugen Onegin“ weiter auf dem Spielplan. 1892 erreichte das Werk seine 100. Aufführung, was in Russland bis dahin nur Glinkas „Ein Leben für den Zaren“ geglückt war. Modellhaft in ihrer Art diente die Petersburger Inszenierung dem Moskauer Bolschoi Theater als Muster, wo 1889 einer neuer Onegin mit aufwändigeren Kostümen und Dekorationen kreiert wurde. Am 18./30. September 1889 dirigierte Tschaikowsky hier persönlich die 51. Moskauer Aufführung des Werks. Mit Aufführungen in Prag (1888) und in Hamburg (1892) unter der Leitung Gustav Mahlers begannen die „Lyrischen Szenen“ noch zu Lebzeiten des Komponisten ihren Siegeszug auf den Bühnen der Welt.

 

Zur Edition

Die Neuausgabe räumt mit vielen Fehlern und Ungereimtheiten der bisherigen Partiturausgaben endlich auf. Sie folgt der Fassung St. Petersburg 1885, die als Fassung letzter Hand gelten darf, wie Tschaikowsky sie für die zweite im Druck bei Jürgenson 1891 erschienene Ausgabe der Partitur vorbereitete. Für diese hatte er die dynamischen und die Tempoangaben gründlich überarbeitet sowie mit Metronomangaben versehen; inklusive der Ecossaises Nr. 20–21 im dritten Akt. Außerdem wurde das Autograph hinzugezogen, das im Glinka-Museum verwahrt wird. Das Aufführungsmaterial aus dem Mariinski-Theater galt bisher als Verlust. Es ist erst im Herbst 2021 von Tamara Skwirskaya im Archiv des Petersburger Michailowski-Theaters wiederentdeckt und auf einer Tagung überblicksweise vorgestellt worden. Das Material basiert auf der Petersburger Aufführung des Jahres 1884 und enthält die 1885 vorgenommenen Änderungen.

Die im Bärenreiter-Verlag vorgelegte Partitur modernisiert den Text der Hauptquelle vorsichtig hinsichtlich Orthographie und Interpunktion. Für die internationale Handhabung ist die Partitur neben dem Kyrillischen mit einer standardisierten Umschrift in lateinischen Lettern unterlegt sowie mit der neuen deutschen Übersetzung von Peter Brenner, die sich rhythmisch sehr nah an die originale Fassung anschmiegt, bei gleichzeitig größtmöglicher Textnähe. Die Partitur wird von einem ausführlichen dreisprachigen Vorwort zur Genese und Rezeption eingeleitet, ein separater Libretto-Abdruck folgt der Textunterlegung der Partitur. Klavierauszug und Orchesterstimmen sind in Vorbereitung und stehen demnächst leihweise zur Verfügung.

Lucinde Braun
(Dezember 2021)