Interview mit Manfred Trojahn

Manfred Trojahns Musiktheater Orest wurde am 8. Dezember an der Nederlandse Opera Amsterdam uraufgeführt. Ein Gespräch mit dem Komponisten über den Mythos und seine Deutungen.

[t]akte: In Orest arbeiten Sie in einem eigenen Libretto den Mythos vom Muttermörder auf. Was sind die zentralen Motive in der Version Ihres Musiktheaters? Haben Sie sich an einer bestimmten literarischen Vorlage des berühmten Stoffes orientiert?

Trojahn: In der Rezeptions- und Deutungsgeschichte dieses Mythos findet sich ein Strang, der das Stück Orestes von Euripides als Propagandastück für den Wechsel zu einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung interpretiert. Natürlich wird das in anderen Deutungen bestritten, aber es hat mich zunächst einmal interessiert, einen Grund für die Ereignisse zu finden, der über die Abfolge von Tat und Rache hinaus, die sich ja durch alle Teile des Artriden-Mythos zieht, einen Einblick vermitteln kann in die, immer fremdbestimmten, will sagen von Göttern erdachten, Voraussetzungen, die die Handlungen auslösen, vor denen wir sprachlos stehen.
Der Hintergrund von Orestes Handeln ist ein, ihm letztlich verborgenes, politisches Konzept. Orest lässt sich in dieses Konzept traditionsgemäß einbinden und nimmt die Befehle des Gottes Apollo, der dahintersteht, als Grund für sein Morden, ja ist dem Befehl so nahe, dass er ihn für den eigenen Impuls ansieht. Der eingewurzelte Ehrenkodex, nach dem Klytaimnestras Mord an Agamemnon gesellschaftlich gerechtfertigt werden konnte, wird von Apollo durch neues Recht außer Kraft gesetzt – nur ist die Anhängerschaft der neuen Idee noch nicht groß. Man hängt dem alten Gesetz an, und daher ist Orest, ist Elektra im Moment, in dem ich sie zeige, in Bedrängnis.
Orest ist keine sympathische Figur, er ist charakterlich völlig ohne Rückgrat. Aber oft haben diese schillernden, manchmal unsicheren Charaktere eine Vision, unklar vielleicht und durch mangelnde Stringenz kaum profiliert -  aber die Vision trägt dazu bei, Einflüsse zu verunsichern, die diese Charaktere sonst leicht zu völlig fremdgesteuerten Ausführenden machen könnten.
Orest vibriert zwischen der Fremdbestimmung, bei der Belohnungen versprochen werden, Ruhm zum Beispiel oder Befreiung aus der gegenwärtigen Bedrohung, und seiner Vision, nach der es doch noch etwas geben könnte, das herausführt in ein neues Licht, in ein neues Leben, heraus aus all der Bedrängnis und der Schuld, in die er sich verstrickt hat.
Er macht nur einen Fehler: er meint, er könne die Schuld hinter sich lassen – und er wird erst spät bemerken, dass er mit der Schuld zu leben hat, um sie zu überwinden. Und Überwinden heißt nicht, sie los zu werden, sondern den schweren Weg zu gehen, keine neue Schuld auf sich zu laden. Orest wird das in einem Moment begreifen, in dem es ihm gelingt, das Mädchen Hermione anzusehen und nicht zu ermorden, wie es seine Schwester fordert. In diesem Moment ist er frei, zu gehen und den Einflussbereich der Konventionen, zu dem der Gott gehört und die ihm sich unterwerfende Gesellschaft, zu verlassen. Die Schuld an den Morden nimmt er mit sich, Hermione wird sie ihm ertragen helfen.
Im oben angesprochenen Stück des Euripides sind diese Motive naturgemäß so nicht zu finden, und so konnten nur Aspekte der Dramaturgie und der Personen für mich dienlich sein.

Orest ist in Ihrem Musiktheater ein Leidender, Verfolgter, der sich von der Göttermacht zu emanzipieren sucht. Was interessiert Sie besonders an dieser Figur?

Ich denke, wir stehen heute in einem besonders deutlichen Spannungsfeld zwischen einem mehrheitlich fremdbestimmten Denken und immer geringer werdenden Möglichkeiten, dieser Macht zu entrinnen. Orest leidet natürlich, unter seiner Schuld und unter den zu erwartenden Konsequenzen. Aber ist er ein Verfolgter? Oder nicht vielmehr ein rechtmäßig festgesetzter Straftäter??
Das, worauf es ankommt, liegt nicht in diesen juristischen Verwicklungen. Es liegt in der Frage, wie man dem Teufelskreis entrinnt, ohne ihn nur zu erweitern und sich in der Vorstellung einer Befreiung zu wiegen, die am Ende eine noch größere Verstrickung ist. Letztlich eine völlig heutige Fragestellung, fast schon banal, weil sie uns auf allen Ebenen begegnet – aber letztlich die einzige und zentrale Frage.
Ob Orest den Weg gefunden hat? Ich kann es nicht beantworten. Wie alle meine Opernhelden geht er am Schluss fort, ohne uns eine Antwort auf unsere Fragen zu geben. So ist auch meine Aufgabe als Künstler: Fragen und Setzungen!

Welche Rolle spielen die weiblichen Figuren? Welche die männliche Göttermacht, das Doppel Apoll/Dionysos?

Wir haben es  mit drei sehr unterschiedlichen Frauencharakteren zu tun, von denen Elektra der heterogenste ist. Sie scheint völlig fanatisiert, und ihr Denken, im Sinne des neuen Rechtes Apollos ‚modern’ , steckt im neuen Weltbild und in der Konvention von Tat und Rache. Ein genauerer Blick zeigt uns aber eine Frau, die zu kurz gekommen scheint in sehr weiblichen Bedürfnissen und die ihr Innerstes nur dann zeigt, wenn sie allein ist. Dabei kann das Alleinsein auch in einem Terzett mit den beiden anderen Frauen verdeutlicht werden. Alle haben sie eine sehr ähnliche musikalische Textur und völlig divergierende sprachliche Inhalte. Sie verstecken sich.
Hermione ist die perspektivenreichste Frauenfigur im Stück. Sie begreift die Konvention als Konvention und fühlt darüber hinaus. Natürlich geht sie zum Grabe Klytaimnestras, diese Konvention stört sie nicht, aber sie ginge auch aus sich heraus, aus innerem Anstand und Zuneigung. Und sie sieht das Desaster um sich her, an dem die Anderen teilnehmen, ohne es wahrzunehmen.
Helena ist eine völlig in sich selbst gefangene Frau, die die Welt nur als einen Spiegel begreifen kann, in dem sie sich selber sieht. Helena wurde gelebt und denkt, sie wurde geliebt – und ist verstört, nichts von dieser Liebe wiederzufinden. Sie ist auch ein wenig verwirrt und überfordert, denn eigentlich braucht sie ein träges Geschehen um sich her und nicht den Strudel in den sie sich gerissen sieht.
Apollo und Dionysos finden sich hier als zwei Seiten einer Figur, auch dafür gibt es Anhaltspunkte in den Interpretationen des Mythos. Apollo ist der politische Zyniker, er verfolgt sein Ziel, und wenn seine Argumente nicht reichen, verwandelt er sich in den sinnlichen Verführer Dionysos. Er nimmt die Rolle, die ihm im Moment dienlich ist. Dionysos will Helena, er sieht sie aus der Ferne des Alls zu sich kommen, und dorthin wird er sie als Sternbild wieder versetzen, wenn Orest meint, sie gemordet zu haben. Die Sprache des Dionysos ist geprägt durch Sprachwendungen und Zitate aus den Dionysos Dithyramben Nietzsches.
Nach dem vermeintlichen (oder doch durchgeführten?? wir werden es nicht wissen!) Mord an Helena kommt der Gott in seinen zwei Gestalten zurück und wird die begehrte Frau ins All entführen – alle, außer Hermione und Orest,  kann er bannen, sie bleiben bewegungslos und besingen den rechten Weg der Stadt unter der göttlichen Macht. Hermione und Orest entziehen sich seiner Verführung, sie können gehen und niemand vermag sie zu halten.

Erstmals schreiben Sie ein Libretto selber. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeitsweise aus?

Ich habe mit wunderbaren und spannenden Librettisten zusammenarbeiten können. Leider habe ich zwei davon durch allzu frühen Tod verloren. Ich bin als Komponist immer auch an der Gestaltung der Libretti beteiligt gewesen, zum Teil  - bedingt durch die Schicksale der Librettisten – außerordentlich intensiv. Dennoch habe ich das Gegenüber gebraucht und dafür geliebt, dass es das Denken aus mir herausgezogen hat, das ich brauchte, um die Stücke bewältigen zu können.
Dieses Mal fehlte das Gegenüber, denn als ich begann, über das Stück nachzudenken, hatte ich keinen Menschen getroffen, mit dem ich mich auf die intime Auseinandersetzung einlassen wollte, die in  solcher Zusammenarbeit liegt. Ich musste es selbst angehen und bin wunderbar unterstützt worden von meiner Frau, Dietlind Konold, die ein umfängliches dramaturgisches Wissen aus jahrzehntelanger Theatererfahrung in ihre Kritik einbringen kann, und von Klaus Bertisch, dem Chefdramaturgen der Nederlandse Opera, der mir alle Hilfe und Offenheit zuteil werden ließ, die ich brauchte.
Das Komponieren trägt schon autistische Züge, die ich oft schwer ertragen kann, aber beides zu verantworten, erleichtert das Tun in keiner Weise.

Zu Ihrer Komposition: Das Geschrei der Erinnyen bildet den musikalisch eindruckvollen Ausgangspunkt des Werks. Fungiert dieses Traumbild des in seiner Qual gefangenen Orest als musikalische Klammer?
Es gibt sechs Frauenstimmen, zuweilen gekoppelt an sechs Soloviolinen, die klanglich den ganzen Zuschauerraum ausfüllen sollen. Ich habe vermieden, sie als Erynnien zu bezeichnen, denn ich denke eher an psychische Vorgänge ‚in’ Orest als an mythische Fabelwesen. Natürlich sind die Frauenstimmen auch die multiplizierte Stimme Klytaimnestras. Diese Musik kehrt immer zurück, fast ohne sich zu verändern, wenn Orest von seinen Gewissensqualen erreicht wird. Die sind durchaus nicht immer da, aber vor allem am Schluss, wenn er sich von Zwängen befreit hat und geht, ohne zu wissen, wohin es ihn treiben wird, treten  diese Begleiter wieder auf.
Sie werden dabei sein, wenn er sich zu suchen beginnt. Und er hat die Liebe Hermiones, die auch nicht wissen wird, wohin sie der Weg führt. Ein sehr fragiles Beginnen der Beiden, denn er sagt, er sei nicht der, der er ist, er wolle der sein, den er sucht – und Hermione kann den nicht kennen, der sie erwartet.....

Fragen: Marie Luise Maintz
aus [t]akte 2/2011

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Foto: Manfred Trojahn, Orest
De Nederlandse Opera, Amsterdam 
Hermann & Clärchen Baus