12.08.2020 09:37

Wiederentdeckte Chormotette von Camille Saint-Saëns

Rechtzeitig zum Gedenkjahr 2021 (100. Todestag am 16. Dezember) wird ein wiederaufgefundenes Chorwerk von Camille Saint-Saëns erstmals ediert: „Super flumina Babylonis“ wird dann in drei Fassungen erhältlich sein.

Yves Gérard ist es zu verdanken, dass in der Médiathèque Jean Renoir im französischen Dieppe ein musikalischer Schatz gehoben werden konnte: Während seiner jahrelangen Recherche stieß er auf ein unbekanntes und unveröffentlichtes Manuskript von Camille Saint-Saëns (1835–1921).
Die Partitur ist eingeschlagen in dünnes, rotbraunes Papier, abgestoßen an den Kanten, lieblos mit Bleistift betitelt „Super Flumina Babylonis“. Mit Tinte wurde wohl später noch „Psaume 136“ hinzugefügt. Kein Schatz auf den ersten Blick – aber auf den zweiten, dritten, vierten.

Es sind die vier obersten Instrumentalstimmen, die dieses Manuskript zu einer kleinen Sensation machen. Untereinander angeordnet sind „Saxophone Soprano en Si b“, „Saxophone Alto en Mi b“, „Saxophone Ténor en Si b“ und „Saxophone Baryton en Mi b“, Streicher, Sopran-Solo mit Chor und Orgel.

Bisher ordnete die Musikgeschichte das erste Saxophon-Quartett Jean-Baptiste Singelée (1812–1875) zu, der 1857 sein Opus 53 vollendete. Diese Geschichtsschreibung muss nun revidiert werden. Denn unter der ersten Seite des Schatzes aus Dieppe, die überklebt und zusätzlich noch vernäht ist, findet sich die Jahreszahl 1854. Das Werk Saint-Saëns’ entstand also drei Jahre früher als das Singelées.

Anders als Singelée setzt Saint-Saëns die Blasinstrumente nicht solistisch ein. Vielmehr nutzt er ihre Klangfarbe, um Stimmungen und Nuancen im vertonten Text zu zeichnen. Stilistisch erinnert der Einsatz der damals nagelneuen Instrumente eher an den Einsatz von Klarinetten oder anderen Holzbläsern – ganz so, wie der Klang der historischen Saxophone. Einerseits begleiten die Saxophone die (durchaus von Laien singbaren) Chorparts, stützen in fugalen Passagen die menschlichen Stimmen. Andererseits führen sie die Melodie in den rein orchestralen Passagen. In keinem Moment der rund 12 Minuten Aufführungsdauer werden die Saxophone technisch vorgeführt, ihre Klangeigenschaften werden vielmehr in die Klage und den Zorn des 136. Psalms integriert.

Die Entstehung der Motette fällt in die Zeit, als Camille Saint-Saëns seine erste feste Anstellung als Organist an der Kirche Saint Merry in Paris übernommen hatte; an der Kirche, neben der heute der Strawinsky-Brunnen, das Ircam und das Centre Georges Pompidou stehen. Während seiner fast fünfjährigen Tätigkeit verfasste er zahlreiche kirchenmusikalische Werke, darunter die Messe op. 4. Über seine Zeit an Saint Merry ist wenig überliefert. Einige der Werke, die er dort komponierte, wurden weder gedruckt noch im kirchlichen Archiv aufbewahrt, sie „versanken“ in seinem Privatbesitz oder wurden verschenkt. Nach seinem Tod gelangte ein Großteil seines Besitzes nach Dieppe; eben auch diese Motette, die eine besondere Bedeutung für den Komponisten gehabt haben muss. 

Mehrfach hat Saint-Saëns über Jahrzehnte das Werk überarbeitet, die Motivik am Anfang verändert, offensichtliche Fehler korrigiert, den Schluss umgearbeitet, schließlich auch mehrfach die Besetzung verändert und sogar – wahrscheinlich im letzten Schritt – den lateinischen Text durch einen englischen ersetzt. So sind heute dreieinhalb Fassungen überliefert. Eine Fassung bricht nach einigen Seiten ab.
Nicht alle Rätsel, die sich um diese Fassungen ranken, konnten gelöst werden. Mysteriös bleibt zum Beispiel der Antrieb, warum Saint-Saëns den 136. Psalm in dieser Besetzung vertonte. In detektivischer Kleinarbeit konnten aber inzwischen die Kompositionsschritte rekonstruiert werden. Darüber hinaus ist es gelungen, die erste Saxophonfassung (BA 11305) und die letzte englische Klavierfassung (BA 11309) in einer wissenschaftlich-kritischen Edition herauszugeben. Die Ausgaben erscheinen im Saint-Saëns-Jahr 2021 im Bärenreiter-Verlag käuflich und sind derzeit bereits vorab leihweise erhältlich. Darüber hinaus wird die großbesetzte Orchesterfassung (AOE 10642) leihweise ab September erhältlich sein.  

Nur wenige Aufführungen lassen sich zu Saint-Saëns’ Lebzeiten nachweisen, besonders begeistert scheint das Publikum damals nicht reagiert zu haben. Ganz anders heute: Die internationale Saxophon-Gemeinschaft wartet begierig auf das Erscheinen der Ausgaben und erste Aufführungen. Die Uraufführung im Rahmen eines Werkstattkonzertes an der TU Dortmund, in dem alle vier Fassungen gespielt wurden, machte deutlich, dass diese Erwartung berechtigt ist. Und dass es sich tatsächlich um einen musikalischen Schatz handelt.


Christina M. Stahl