15.10.2021 08:33

Reiche Bühnenaktion und vielfältige Chor- und Tanzszenen - Telemanns Oper für Hamburg „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“

Georg Philipp Telemanns Orpheus-Oper für das Gänsemarkttheater in Hamburg fällt in seiner Üppigkeit aus dem Gewohnten jener Zeit heraus. Leider ist die Quellenüberlieferung lückenhaft. Grundlage für wirkungsvolle Aufführungen ist der Band aus der Telemann-Auswahlausgabe bei Bärenreiter.

Unter Telemanns erhaltenen Hamburger Bühnenwerken kann „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“ (TVWV 21:18) als das ungewöhnlichste, in seiner Überlieferung zugleich auch problematischste Werk gelten. Ungewöhnlich, ja für die gesamte Opernproduktion des Theaters am Gänsemarkt sogar singulär, ist die Verbindung von deutscher, italienischer und französischer Sprache im Libretto des Stückes, eigentümlich und erklärungsbedürftig die erste nachweisbare Aufführung der Oper als ein „Concert“ am 9. März 1726, das von der berühmten Sängerin Margaretha Susanna Kayser (1690–1775) veranstaltet wurde. Orpheus war ursprünglich als reguläre Repertoireoper konzipiert mit verschiedenen Bühnenbildern, reicher Bühnenaktion und vielfältigen Chor- und Tanzszenen; warum das Stück 1726 nur als Konzert aufgeführt wurde, ist unklar. Solche einmaligen Darbietungen stellten während der Fastenzeit, in der Opernaufführungen in Hamburg verboten waren, eine Möglichkeit dar, das Opernhaus trotz ruhenden Spielbetriebs gewinnbringend zu nutzen.

Das Libretto der Oper, das mit einiger Wahrscheinlichkeit Telemann selbst verfasste, basiert auf der Tragédie en musiqie „Orphée“ von Michael Du Boulay (Paris 1690, Musik von Louis und Jean-Louis Lully), verwendet aber für die italienischen Arien und französischen Airs Texte aus mehreren anderen italienischen und französischen Opern, darunter berühmte Werke wie „Armide“, „Thesée“ und „Amadis“ von Pierre Quinault und Jean-Baptiste Lully oder „Rinaldo“ von Aaron Hill, Giacomo Rossi und Georg Friedrich Händel. Der „Orpheus“ bietet die seltene Gelegenheit, Telemann-Arien mit textgleichen Vertonungen von Händel und Lully zu vergleichen!

Vor erhebliche editorische Probleme stellt die Überlieferung der Musik an einem für Telemanns Schaffen peripheren Quellenort, der Musikaliensammlung des Grafen Rudolf Franz Erwein von Schönborn (1677–1754) in Schloss Wiesentheid (Mainfranken). Die zeitgenössische Partiturabschrift von zwei unbekannten Kopisten aus der Entstehungszeit der Oper geht mit großer Wahrscheinlichkeit direkt auf Telemanns Autograph zurück, enthält allerdings eine Version des Stückes, die von den überlieferten Librettodrucken nicht unerheblich abweicht und offenbar eine Frühfassung der Oper dokumentiert. An einzelnen Stellen sind die überlieferten Rezitative länger als der betreffende Text im Libretto oder passen nicht zu den Noten, so dass immer wieder unklar bleibt, welchen ursprünglichen Text Telemann vertont hat (die Rezitative sind ja, wie es Telemanns Praxis in vielen seiner eigenen Partituren war, nicht textiert, und müssen nach dem Libretto mit Worten unterlegt werden).

Hinzu kommt, dass die Abschrift die Oper unvollständig überliefert; sie wurde nach einer bereits unvollständigen Vorlage (möglicherweise das Autograph, in dem einige Blätter fehlten) kopiert. Dies hat zur Folge, dass gegen Ende des II. Aktes das Air „L’amour plaît malgré ses peines“ nach neun Takten abbricht und die Schlussszene des Aktes, ein Rezitativ zwischen Orpheus und seinem Gefährten Eurimedes, ebenso fehlt wie der Beginn des II. Aktes mit einem Rezitativ des Unterweltgottes Pluto und seiner anschließenden Arie „Zu den Waffen!“. Die Hoffnung, diese fehlenden Teile in einer ebenfalls in Wiesentheid überlieferten zweiten Partiturabschrift wiederzufinden, verflüchtigt sich schnell, da deren Notentext nur die erste Abschrift nochmals kopiert (allerdings an einigen Stellen auch korrigiert).
Die Oper beginnt in der überlieferten Form mit einer Arie in d-Moll der Gegenspielerin des Orpheus, der Zauberin Orasia (eine Armida-Figur); die Annahme liegt nahe, dass, wie in allen anderen Opern Telemanns, dem Beginn der Handlung eine Ouvertüre voranging, möglicherweise in F-Dur. Wir kennen sie nicht.

Aufgabe der historisch-kritischen Ausgabe der Oper in der Telemann-Ausgabe des Bärenreiter-Verlags war es, den fragmentarischen Charakter der Überlieferung editorisch abzubilden und nicht durch bearbeitende Eingriffe zu kaschieren, wie dies vorangegangene Erschließungen vorgenommen haben. Selbstverständlich kann, ja muss die Oper für heutige Aufführungen ergänzt und bearbeitet werden; dabei sollte es aber jeder Interpretin und jedem Interpreten ermöglicht werden, die erhaltenen, also originalen Teile von den hinzugefügten, „modernen“ Bestandteilen zu unterscheiden. Wenn dies die historisch-kritische Ausgabe als Referenzquelle für heutige Aufführungen leistet, so ist ihre vornehmste Aufgabe erfüllt.

Wolfgang Hirschmann


Wolfgang Hirschmann ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Editionsleiter der Telemann-Ausgabe im Bärenreiter-Verlag.

Anselm Feuerbach: Orpheus and Eurydice, Österreichische Galerie Belvedere