Dramaturgisch und musikalisch großartig - Ein Gespräch mit René Jacobs über Telemanns Oper „Orpheus“
Eine besondere Liebe des Dirigenten René Jacobs gilt Georg Philipp Telemann Oper „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“. Im Interview spricht er über diese Leidenschaft und wie er Fehlstellen in der Quellenüberlieferung füllt.
Vor nunmehr 27 Jahren hast Du an der Deutschen Staatsoper Berlin mit Telemanns „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“ debütiert und von dieser 1998 bei Harmonia Mundi auch eine CD-Einspielung vorgelegt. Was hat Dich nach mehr als zwei Jahrzenten bewogen, sich dieses Musikalischen Dramas von 1726 erneut anzunehmen?
Meine große Liebe zu diesem Stück und seine Einmaligkeit: Nicht nur die Dreisprachigkeit und wie sie dramaturgisch eingesetzt wird; auch die Tatsache, dass der Mythos wie bei Ovid und Vergil bis zum blutigen Ende erzählt wird; die Erfindung der Figur der Orasia – dieser „literarischen Schwester“ (Wolfgang Hirschmann) der Armida – als Anführerin der Bacchantinnen und das tragico fine, das sie auslöst. Seit 1998 habe ich durch die bei Bärenreiter erschienene kritische Neuausgabe so viel dazugelernt, dass ich immer mehr Lust bekam, die Oper neu zu durchdenken.
Für die bevorstehende Serie konzertanter Aufführungen in europäischen Konzertsälen stützt Du Dich auf die von Wolfgang Hirschmann unter Mitarbeit von Ulf Grapenthin edierte, 2011 bei Bärenreiter erschienene kritische Neuausgabe, zu der der Verlag nun extra das Stimmenmaterial erstellt hat. Dort ist die Oper in der von den Quellen überlieferten fragmentarischen Fassung überliefert. Gleich zu Beginn fehlt die Ouvertüre. Welche instrumentale Einleitung hast Du jetzt gewählt?
Die Ouvertüre zu Telemanns „Miriways“ von 1728 steht in F-Dur. Das ist auch die Tonart des Schlusschors der Oper „Orpheus“ „Ach lebe, Königin, ach lebe!“, in Tränen gesungen von Orasias Gefolge. Sie, nicht Eurydike, ist die weibliche Hauptperson dieser Oper.
Die Bläserbesetzung in der „Miriways“-Ouvertüre und im weiteren Verkauf dieser Oper ist üppiger und ausdifferenzierter als die in Telemanns „Orpheus“. Nur für eine Ouvertüre zusätzliche Interpreten für die je zwei Corni da caccia und Oboen zu engagieren, ist in gewisser Hinsicht Luxus. Entlässt Du diese Musiker nach den ersten fünf Minuten für den Rest des Abends in die Kantine oder gibst Du Ihnen im Verlauf Deiner Fassung noch eine weitere Chance, mit ihrem spieltechnischen Können zu glänzen?
Die „Miriways“-Ouvertüre ist in den Bläsern in der Tat für zwei Oboen und zwei Hörner komponiert. Die minimale „historische“ Holzbläserbesetzung mit einer Oboe und einer Blockflöte, vermutlich damals vom gleichen Musiker gespielt, war ohne Zweifel eine Notlösung. Wir haben zwei Oboisten engagiert, von denen der erste auch Blockflöte spielt, aber die Hörner sind in der Tat Luxus. Ich fand, dass diese dramaturgisch und musikalisch großartige Oper eine „große“ Ouvertüre verdient. Die Hornisten sollen nicht zu lange in der Kantine bleiben, weil sie in meiner Aufführungsfassung die Orchesterfarben des Finales der Oper dominieren.
Die rasenden Bacchantinnen stürmen auf die Bühne – unsere Aufführungen werden nicht rein konzertant sein, sondern halbszenisch – zu einer „starken Musik“ mit Hörnern aus Georg Caspar Schürmanns Oper „Ludovicus Pius“ (1725), und ein Teil dieser aggressiven Musik kehrt zurück, wenn die Frauen Orpheus´ Körper in Stücke reißen (Rezitativ Nr. 83). Im Schlusschor spielen die Hörner den Refrain (I. 1–16) mit, nachdem sie ihn mit einer „Sinfonie en Sarabande“, einer Art Trauermarsch aus „Miriways“, atmosphärisch eingeleitet haben.
Zwei weitere gravierende Fehlstellen in Telemanns Partitur müssen ergänzt werden, das nach neun Takten abbrechende Air „L’amour plaît malgré ses peines“ und das sich anschließende, den I. Akt beschließende Rezitativ zwischen Orpheus und seinem Gefährten Eurimedes. Ebenfalls nicht erhalten hat sich die Musik am Beginn des II. Aktes mit einem Rezitativ des Unterweltgottes Pluto und seiner anschließenden Arie „Zu den Waffen!“ Welche musikalisch-dramaturgischen Lösungen hast Du dafür gefunden?
„L‘amour plaît malgré ses peines“ und das vorangehende Rezitativ (Ismene, Orasia) wurden gestrichen, trotz meiner Ergänzung der Air. Für die Konzerte waren einige Kürzungen und Striche unvermeidbar; zwei Pausen sind coronabedingt momentan auszuschließen. Das Rezitativ zwischen Orpheus und seinem „Herzensfreund“ Eurimedes ist dramaturgisch von großer Wichtigkeit und außerdem als Abschluss des ersten Akts gedacht: Eine Neukomposition des kompletten Textes in Telemanns Stil ist unbedingt notwendig. Ich habe die erste Hälfte des Rezitativs als Recitativo semplice komponiert und die zweite Hälfte, in der Eurimedes seinen Freund ermutigt in die Unterwelt hinabzusteigen, um mit seinem „lieblichen Gesang“ und seiner „Saiten holden Klang“ Pluto zu besänftigen, als Recitativo accompagnato. Den zweiten Akt lasse ich mit einer „höllischen“ Sinfonia aus Maurice Greens „Ode for St. Cecilia´s Day“ (1730) beginnen. Dort eröffnet sie die Vertonung eines, was Thema und Affektgehalt betrifft, sehr passenden Texes: „But when thro‘ all th‘ infernal bounds, sad Orpheus sought his consort lost …“. Auch die Nachkomposition des Pluto-Monologs ist in meiner Fassung ein Recitativo semplice, das bei den Worten „stellt der Vermessne sich in meinen Grenzen ein“ als Accompagnato fortgeführt wird, wobei ich die harmonische Progression von Greens Einleitung – Orpheus´ „harten Gang“ in die Unterwelt – entlehne. Die Arie „Zu den Waffen“ ist mit Sicherheit keine große heroische Arie gewesen, aber eine Arietta in Da-capo-Form (Mittelteil: „Lasse nicht ab, bis ihn gefunden“ mit einem kontrastierenden daktylischen Versmetrum), wobei das Da capo vom Chor wiederholt wird – und diese Wiederholung ist nicht verschollen.
Von den lange verkannten Bühnenwerken Georg Philipp Telemanns sind in der jüngeren Vergangenheit etliche als CD-Produktionen erschienen, von „Miriways“ sogar deren zwei. Nur das von nicht wenigen Verehrern des Komponisten als sein Opus magnum angesehene Singspiel „Die Last-Tragende Liebe oder Emma und Eginhard“, das Du 2015 ebenfalls an der Deutschen Staatsoper Berlin dirigiert hast, wurde bisher nicht auf Tonträger festgehalten. Dürfen wir darauf hoffen, dass Du Dich auch dieser Oper ein zweites Mal zuwenden und uns mit einer Ersteinspielung beglücken wirst, die jeder ohne Zögern mit auf die einsame Insel nähme?
Ich hoffe selber sehr darauf! Ich warte auf bessere Zeiten für die Tonträgerindustrie und einen Telemann-Sponsor!
Das Interview führte Ulrich Etscheit