31.05.2021 12:14

Charles Gounods „Faust“ in der Dialogfassung von 1859 an der Oper Köln

Charles Gounods “Faust” erlangte als unbestrittenes Meisterwerk seine internationale Anerkennung in der Fassung als durchweg gesungene Oper. Darüber geriet jedoch in Vergessenheit, dass das Werk, dessen Stoff den Direktor der Pariser Opéra zunächst nicht interessiert hatte, ursprünglich mit gesprochenen Dialogen für das Théâtre-Lyrique komponiert worden war, die dritte Opernbühne der französischen Hauptstadt nach der Académie impériale de musique und der Opéra-Comique. Die gemischt gesungene und gesprochene Fassung, die sich wiederum sowohl von denjenigen der Grand Opéra wie der Opéra-Comique unterscheidet, ist in zwei Hauptversionen überliefert, die bislang noch unveröffentlichte Nummern und Melodramen enthalten.

Gounod kam 1840, während seines Aufenthalts als Träger des Rompreises (Erster Preis) in der Villa Medici, zum ersten Mal mit Goethes „Faust“ in Berührung. Dieser Text übte damals in Frankreich tatsächlich eine große Faszination auf Künstler und Publikum aus, und es gab bereits eine beachtliche Produktion von Bearbeitungen in allen Gattungen. Ab diesem Zeitpunkt notierte Gounod in seinen Skizzenbüchern verschiedene Ideen, von denen er hoffte, sie eines Tages verwerten zu können, wenn er „versuchen würde, den Stoff für eine Oper zu bearbeiten“ (Mémoires d’un artiste). Sein Hang zur Romantik wurde durch Italien noch befördert, und er befand sich wohl auch in der entsprechenden Gemütslage, als er ein kurzes Adagio für Klavier mit dem Titel „À la lune“ schrieb, die erste Skizze eines Hauptthemas des „Duetts im Garten“ der zukünftigen Oper, „Ô nuit d’amour, ciel radieux!“

Die Entstehungsgeschichte des „Faust“-Librettos ist nicht einfach zu ermitteln. Es entsprang dem gemeinsamen Wunsch von Jules Barbier, Gounod und Léon Carvalho, dem Direktor des Théâtre-Lyrique. Barbier übernahm das Grundgerüst des Theaterstücks von Michel Carré (Faust et Marguerite, 1850), ergänzte es und setzte es in Verse. Carré selbst steuerte später einige Nummern bei, deren berühmteste die „Ronde du veau d’or“ ist, sowie zweifellos auch die gesprochenen Dialoge. Nachdem es etliche Kürzungen erfahren hatte, wurde das Libretto im November 1858 bei der Zensur eingereicht.

Genau wie die deutsche Kritik, die schon Ende des 19. Jahrhunderts in der Bearbeitung von Barbier und Carré eine allzu blasse Imitation von Goethe sah, hat auch die französische Musikgeschichtsschreibung das von Gounod vertonte Libretto immer wieder verunglimpft. Die Absicht der Autoren der Oper zielte freilich weniger darauf, sich treu an eine Vorlage zu halten, als darauf, eine Bearbeitung für die Opernbühne frei zu gestalten, wo doch der Stoff bereits Anlass zu zahlreichen, nach Goethe entstandenen Werken in französischer Sprache gegeben hatte.

Das ursprüngliche Libretto ist dramaturgisch geschickt angelegt und sorgfältig in Verse gesetzt, und es basiert auf drei wesentlichen Elementen: Das erste ist natürlich die Liebesbeziehung zwischen Faust und Marguerite. Das fromme junge Mädchen erliegt dem Charme des zwielichtigen Faust, der sich erst wie ein skrupelloser Frauenheld verhält, bevor er seinem teuflischen Gefährten gegenüber dann doch misstrauisch wird. Die unglückliche Liebe der klassischen Tragödie ist hier eine unmoralische Verbindung, die die Tötung des illegitimen Kindes zur Folge hat. Das zweite Element fällt in den Bereich des Fantastischen und bietet Anlass zu spektakulären szenischen Effekten, von Fausts Verjüngung über die Erscheinung von Marguerite als Vision im Hintergrund des Studierzimmers des Gelehrten bis zur Walpurgisnacht, wo sich Dämonen und Hexen dem Sabbat hingeben. Der wichtigste Themenbereich ist die Religion, und man darf wohl annehmen, dass Gounod selbst einiges zu seiner Entwicklung beigetragen hat, indem er ihm einen Stellenwert gab, den er weder bei Goethe noch im Stück von Carré hat. In der Tat steckt in dem Libretto eine christliche, die Sünde betreffende Botschaft: Die unschuldige Marguerite hat sich einem Verführer hingegeben, der sie begehrt, aber in Wahrheit nicht liebt, und ein Kind in die Welt gesetzt, das sie zur Vertuschung ihres Vergehens tötet. Durch ihre aufrichtige Reue kann sie den Teufel entlarven und besiegen. Wie eine „neue Eva“ erfährt sie ihr Heil in einer Apotheose, die an die Himmelfahrt der Jungfrau Maria erinnert. Faust verflucht „Glaube,  Liebe, Hoffnung“, die drei göttlichen Tugenden, die auf drei Abschnitte des traditionellen christlichen Gebets übertragen werden. Im Gegensatz zu Marguerite hängt er einer im Diesseits verwurzelten Lehre an, die nichts wissen will von der in den Seligpreisungen gelobten „Armut im Geiste“, die ihn für die Sünde anfällig macht und von der Weisheit wahrer Gotteserkenntnis fernhält. Mit etwas mehr Erfolg als im Bericht des Evangeliums (Mt 4, 1-11; Lk 4, 1-13) bringt Méphistophélès hier sein Opfer in Versuchung, indem er ihm Reichtum und Macht verspricht, bevor er ihm zum Preis seines tödlichen Pakts die Jugend zurückgibt und ihm ermöglicht, für kurze Zeit in den Genuss materieller Vergnügungen zu kommen. Die Oper endet mit der beseligten Verkündigung der Auferstehung Christi – Mittelpunkt des katholischen Glaubens, an dem die Zensur so sehr Anstoß nahm –, einem endgültigen Appell an das Leben als Antwort auf das tödliche „Nichts“ des Prologs.

Laut Carvalho war die Oper Ende Februar 1857 fast vollendet, doch zu diesem Zeitpunkt waren viele Nummern noch nicht instrumentiert, etliche noch lange nicht abgeschlossen. Im Sommer 1858 arbeitete Gounod intensiv an der Orchestrierung. Die ersten Proben begannen Anfang September. Weil das Pensum zu aufwändig war, verschob Carvalho die erste Aufführung auf den Anfang des folgenden Jahres, was nicht dazu beitrug, den Komponisten bezüglich des Wertes seines Werkes zu bestärken. „Was mich betrifft“, schrieb dieser am 11. Januar 1859 an Georges Bizet, „so kann ich Dir nicht genau sagen, was meine Partitur wert ist: Ich bin so tief darin versunken, dass ich sie nicht richtig zu beurteilen vermag. Nichts mehr übt heute eine Wirkung auf mich aus: Ich bin von meiner Musik übersättigt.“

Die Neuausgabe präsentiert die „Faust“-Version, die den ursprünglichen Vorstellungen der Autoren am nächsten kommt. Etliche Nummern unterscheiden sich von den bekannten Stücken nur durch Details der Instrumentierung (Duett Faust/Méphistophélès „Me voici!...“; Duell-Terzett „Que voulez-vous, messieurs?“; Valentins Tod „Par ici, mes amis!“); andere werden das Hörerlebnis der Musikliebhaber, die Gounods Faust kennen, ändern: das Terzett Faust/Wagner/Siebel „À l’étude, ô mon maître“, das Duett Marguerite/Valentin „Adieu, mon bon frère!“, Méphistophélès‘ Arie „Maître Scarabée“, Siebels Romanze „Versez vos chagrins dans mon âme!“, Valentins Arie mit Chor „Chaque jour, nouvelle affaire“ sowie der Hexenchor „Un, deux et trois“. Der zweite Abschnitt der Cavatine von Faust („Salut! demeure chaste et pure“), der unlängst durch Zufall entdeckt wurde, konnte vollständig rekonstruiert werden. Er war während der Proben 1858/59 um 117 Takte gekürzt worden, um dem Tenor Guardi seine Aufgabe zu erleichtern, einem Anfänger, der letztlich die Partie in der Uraufführung dann doch nicht sang. Zu erwähnen sind auch die sieben Melodramen, deren fehlende oder unvollendete Instrumentierung für die vorliegende Rekonstruktion vervollständigt wurde.

Nun handelt es sich dabei ganz bestimmt nicht um die Form, in der das Publikum 1859 Faust zu Gehör bekam. Léon Carvalho, Direktor und Regisseur in Personalunion, war eine ausgeprägte Persönlichkeit, und Gounod musste unter seinem unentwegten Druck viele Änderungen durchführen. Zudem war die Uraufführung wegen der Schwierigkeiten bei den Proben, die die Neugier des Publikums nur verstärkten, regelmäßig Thema in den Zeitungen.

Zweifellos hatten die Autoren – insbesondere Gounod selbst – allen Grund, wegen ihres „Faust“ nervös zu sein. Das Werk enthielt viel zu viel Musik, und man musste zahlreiche Kürzungen vornehmen, damit die Aufführung innerhalb eines Abends stattfinden konnte. Jules Massenet, zu der Zeit Paukist am Théâtre-Lyrique, berichtet: „Wir probten in einem Anfall von Überschwang, unter der Leitung von Léo Delibes, damals Studienleiter… Man wusste von der geplanten Intrige… Man muss wissen, dass sich diese neue Musik deutlich von jener unterschied, die gerade sehr erfolgreich war! … Im Theater war man nervös, beunruhigt, man fand es zu lang… Und Gounod weinte… Ja, er weinte… wegen der Kürzungen, die man ihn zwang, in seiner Partitur vorzunehmen“ (Georges Cain, Promenades dans Paris). Zu all diesen Zwängen gesellte sich auch noch das anspruchsvolle, divenhafte Wesen von Carvalhos Gattin, die in der Uraufführung die Marguerite singen sollte.

Das Werk wurde schließlich am 19. März 1859 uraufgeführt, mit Marie-Caroline Miolan-Carvalho (Marguerite), Jules Barbot (Faust) und Mathieu-Émile Balanqué (Méphistophélès) in den Hauptpartien. Die beiden oben genannten Nummern (Terzett und Duett) waren gestrichen. Die „Ronde du veau d’or“ ersetzte die ursprünglichen „Scarabée“-Couplets, nachdem Carvalho vier Entwürfe für die Arien des Méphistophélès abgelehnt hatte. Der Soldatenchor trat an die Stelle von Valentins Arie. Welchen Anteil der gesprochene Text hatte, ist nicht bekannt, aber er dürfte eher klein gewesen sein, glaubt man der Presse, die anerkennend feststellte, dass Faust aufgrund seines „musikalischen Stils und der fast völligen Abwesenheit von Dialogen eine richtige Grand Opéra sei (Revue musicale, 1. April 1859). Saint-Saëns, der gestand, die durchkomponierte Oper mit Rezitativen zu bevorzugen, notierte indessen, dass „in gewissen Teilen die Mischung von Wort und Musik sehr ansprechend“ sei (Portraits et souvenirs). Im Laufe der Aufführungen und der Wiederaufnahmen – das Werk wurde in jeder Saison gespielt – kam es zu einer ununterbrochenen Folge weiterer Umgestaltungen.

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erinnerte die Musikliteratur im Wesentlichen diejenigen Rezensionen, die sich anlässlich der Uraufführung 1859 am abfälligsten über Gounod geäußert hatten. Sie stützten sich dabei zweifellos auf die Aussagen von Carvalho, dem sicherlich daran lag zu beteuern, wie mutig und hartnäckig er trotz aller Anfeindungen gewesen sei, die er übrigens gern übertrieben darstellte. Tatsächlich aber behandelte die Kritik die Oper wie andere Neuheiten auch, und die – geteilten und meist differenzierten – Beurteilungen des Werks waren letztlich eher wohlwollend, abgesehen vom Hauptvorwurf gegen die Autoren, der mangelhaften Beachtung von Goethes Vorlage. Die Zeitungen interessierten sich im Grunde kaum für die Musik und lobten gerade mal die paar Nummern, die dann zu den beliebtesten wurden. Es waren eindeutig die Kommentare mit dem meisten Sachverstand, die auch größte Begeisterung zeigten. Joseph d’Ortigue etwa: „Herr Gounod schreibt als ein Mensch, der die Ausdrucksform der Intelligenz, des Gehörs, der Worte und der Töne gleichermaßen beherrscht. Die Phrasierung seiner Rezitative ist perfekt – er versteht es, Dialoge zuzuschneiden, er weiß um die Wirkung von Akzenten und um die Kraft der Verskunst. Der poetische Satz ist mit seiner musikalischen Phrase geschmeidig verbunden, was bedeutet, dass bei Herrn Gounod zu all dem Geschick und der ganzen Inspiration, die den großen Musiker ausmachen, die Vorzüge eines gebildeten Mannes hinzukommen, und man erkennt angesichts der Schönheit seiner Musik, dass er einen in höchstem Maße ausgeprägten Sinn für die Schönheiten der anderen Künste hat“ (Le Ménestrel, 27. März 1859).

Die Dialoge wurden gekürzt und zwei Melodramen verschwanden. Unberührt blieb die Walpurgisnacht, die bei der Presse auf breite Ablehnung stieß: Man schätzte es nicht, dass Hexen auf Besenstielen ritten oder das Feuer eines Kessels mit Eisenlöffeln schürten. Nach der Wiederaufnahme im Herbst 1859 befand die Presse über die Walpurgisnacht, dass nunmehr „etliche Widerlichkeiten ausgemerzt“ seien. Der letzte Akt war also beträchtlich gekürzt worden, womit dem Werk ein Großteil seiner fantastischen Dimension abhandenkam. Gounod schuf stets mit leichter Hand gefühlvolle Liebesduette, doch war es ihm wohl nicht gelungen, dem Hexensabbat, den man sich ausgelassener gewünscht hätte, die nötige Wucht zu verleihen. Und die misslungene Inszenierung war wohl auch nicht hilfreich. Hingegen ließ sich das Publikum von der Kirchenszene mitreißen, die ursprünglich der Rückkehr der Soldaten vorausging. In einer offenen Verwandlung öffnete sich die nahe gelegene Kirche, um schließlich die ganze Bühne einzunehmen, die nun das Kircheninnere darstellte. Dieser Effekt verschwand 1862, als das Théâtre-Lyrique in das Haus an der Place du Châtelet umzog, wo die viel kleinere Bühne nicht die gleichen szenischen Möglichkeiten bot. Die gesprochenen Dialoge fielen 1866 weg, doch alles spricht dafür, dass mehrere Melodramen bis 1869 beibehalten wurden, als das Werk in Paris auf die Bühne der Opéra gelangte.

Auch wenn Gounod konzeptionell die Tradition des Théâtre lyrique fortführt, steht er für eine tiefgreifende Erneuerung der französischen Oper. Er verzichtet auf sängerische Virtuosität um ihrer selbst willen und wendet sich wieder einfachen Melodien zu, die von großem Erfindungsgeist zeugen und geschickt dem Rhythmus des Textes folgen, unterstützt von einer ausdrucksstarken Orchesterbegleitung voller überraschender Wendungen. Das Drama tritt in den Hintergrund und wird intimer: Gounod zeichnet Charaktere, er vermittelt ihre Empfindungen reizvoll, elegant oder auch ganz plastisch und lädt das Publikum ein, sie zu teilen. Kurz vorgebrachte Einfälle reihen sich ein in eine fortlaufende Abfolge, wobei das Gleichgewicht zwischen Melodik, Deklamation und Zusammenklang gewahrt und so der Weg zur Opernkomposition bereitet wird, wie sie in Frankreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Verbreitung findet.  

Paul Prévost
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)

 

Foto: Bernd Uhlig