14.10.2021 07:58

„Blick – Traum – Übergang“. Manfred Trojahns Prolog zu Verdis „Don Carlo“

Ein Prolog hat am Ende den berühmten Doppelpunkt. Jetzt, erst jetzt wird gehandelt, das im Prolog Verhandelte soll Vorgeschichte sein. So habe ich meine Aufgabe in diesem Fall verstanden. Es galt, eine Vorstellung zu entwickeln von dem, was den Figuren in diesem Stück als ein gemeinsames Erlebnis möglich gewesen sein könnte. Wo hätten sie sich treffen können? Was hätte geschehen können zwischen ihnen? Die schwierigste Aufgabe, die sich dem Komponisten szenischer Arbeiten stellt, besteht darin, sich zu verbieten, eine Regie zu komponieren. Der Raum, der für die Regie bestimmt ist, muss frei bleiben. Die Fantasie des Komponisten hat ihren Platz in der Musik und in der Dramaturgie der Erzählung. So wird in diesem Prolog nicht eigentlich eine Handlung entwickelt – die aufzuzeigen obliegt eben dem Regisseur. Es wird vielmehr eine Situation angenommen, die einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzt: Eine Begegnung, ein Blick – mehr darf es nicht sein in der vorgegebenen Enge, von der dann auch die Oper erzählt, die mir ganz eigentlich ein Stück über gesellschaftlichen Zwang zu sein scheint, und über die Unmöglichkeit, ihm zu entrinnen. Aber mit dem Blick kann auch ein Traum ausgelöst werden, ein Traum, in dem alles möglich wird, ja fast eine Wahrscheinlichkeit bekommt, ein Traum aus dem zu erwachen bedeutet, dass die Realität noch gnadenloser erfahren wird, als es zuvor denkbar war – alles nun Erlebte wird zur Bedrohung. Im Übergang kann diese Bedrohung gespürt werden, weil sich die Strenge Raum nimmt, von der alles in dieser Oper umgriffen wird.

Manfred Trojahn
(aus [t]akte 1/2020)